Beitrag: Goodbye Motors – die stille Technologierevolution des Stromnetzes

Eine große deutsche Wochenzeitung titelte vor Jahren, die Ursünde der Energiepolitik bestehe darin, das Netz vergessen zu haben. Inzwischen reden wir zwar viel über das Netz, aber zumeist „nur“ über dessen Ausbau. Sehr viel seltener hört man von der Mammutaufgabe, das Netz der Zukunft flexibel und dynamisch zu stabilisieren, und ihren zahlreichen Implikationen.

Die Ausgangssituation

Der Weg unserer Energieversorgung und damit der Stromnetze ist durch die physikalische Notwendigkeit vorgezeichnet, die Zeitkomponente durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Klimaschutzgesetz unterstrichen: Im April hat die Keeling-Kurve der CO2-Konzentration, die sich aus den Messdaten vom Mount Mauna Loa ergibt, erstmals die 420 ppm-Schwelle überschritten, das IPCC gibt für einen Wert von 450 ppm die Chancen, das +2 °C-Ziel bis 2100 einzuhalten, nur noch mit fifty-fifty an. Das Energiewirtschaftliches Institut an der Universität zu Köln (EWI) schätzt den deutschen Strombedarf 2030, auch wegen der fälligen Sektorenkopplung, auf 680 TWh. Nähmen wir das Nullemissionsziel ernst, müssten wir umgehend beginnen, erneuerbare Energien rasant zuzubauen, bei der PV-Leistung zum Beispiel zwischen 15 und 35 GW … jedes Jahr.

Am Rand der Belastung: das Grid Edge

Wie wir die benötigten Strommengen erzeugen könnten, dazu liegen solide Berechnungen vor. Wie wir sie bewegen, ohne in einen Netzkollaps zu steuern, darüber zerbrechen sich Expert/innen die Köpfe. Wir haben das Netz um die intrinsischen Eigenschaften großer Synchronmaschinen herum konstruiert. Sie sind „by design“ in der Lage, dem Netz eine definierte Spannung (230 V) und Frequenz (50 Hz) aufzudrücken. Zudem stabilisieren ihre rotierenden Massen dank ihrer Drehträgheit, auch im deutschen oft mit dem englischen Begriff Inertia beschrieben, den Netzzustand gegenüber Störungen. Genau diese Maschinen werden aber, von einigen Turbinen in Wasserkraftwerken abgesehen, mit dem Ende der fossilen Kraftwerke verschwinden. An ihre Stelle treten die Wechselrichter der regenerativen Kraftwerke: statt massiver Generatoren Platinen mit Leistungselektronik, die echte Inertia durch virtuelle Inertia ersetzen muss. Die Dynamik im schwingungsfähigen Verbundsystem wird sich enorm steigern: Je weniger Schwungmasse angeschlossen ist, umso schneller ändert sich bei einem Ungleichgewicht zwischen Erzeugung und Verbrauch – wenn also ein Energieüberschuss oder -defizit im Netz herrscht – die Netzfrequenz. Gerade diese Änderungsrate df/dt (Rate of Change of Frequency, ROCOF) erfordert blitzschnelle Regelungsfähigkeit, die Fast Frequency Response (FFR): Die Zeit, die verbleibt, um durch Beisteuern von Regelreserven die Frequenz innerhalb der erlaubten Bandbreite von 40,8 Hz bis 50,2 Hz zu halten, verkürzt sich drastisch. Auf der Habenseite der Leistungselektronik steht aber ihre Fähigkeit, in höchster Geschwindigkeit auf Netzfehler zu reagieren. Kann sie aus der Anlage „in ihrem >Rücken“ über zusätzliche Energie verfügen, so kann sie diese bei Unterfrequenz ins Netz schießen und den Fehler zu beheben. Dieses Verhalten, bekannt als Fault Ride Through (FRT), wird schon seit Jahren von Wechselrichtern gefordert. Nun stehen sie aber vor der Aufgabe, dem Netz samt seinen Betriebszuständen nicht mehr nur zu folgen, sondern es zu bilden. Das wäre schon im alten Netz anspruchsvoll, das noch gar kein Netz, sondern vielmehr strahlenförmig organisiert ist: vom zentralen Großerzeuger top down zu den klein(er)en Verbrauchern. Jetzt entstehen erstmals echte Netze: vermascht, ohne Vorzugsrichtung des Energietransports. An ihnen hängen zahllose Prosumer mit Einspeisung und Bezug, die sowohl hinsichtlich Leistung als auch zeitlichem Aufkommen stark fluktuieren.

Leistungselektronik muss demnach nicht nur Leistung seitens einer Vielzahl von Generatoren verarbeiten, sie ins AC-Netz speisen – oder in Speicher, oder in Elektrolyseure oder … – sowie Erzeugung und Verbrauch in alle Richtungen ausgleichen, sondern sie muss auch das Netz schützen, indem sie Inselbildungen verhindert, stets die richtige Menge Wirk- oder Blindleistung einspeist und letztlich auch schwarzstartfähig wird. Dafür muss sie lernende Energiemanagementsysteme (EMS) integrieren, um teils binnen Millisekunden zu entscheiden, welche Energiequelle sie zum jeweiligen Zeitpunkt ausschöpfen soll – unter Bezug auf Wetterprognosen und fortwährend aktualisierte Lastprofile. So „gepimpt“ kann sie dann auch am Regelenergiemarkt teilnehmen, mit dem IoT kommunizieren und Cyber-Attacken abwehren. Die Musik spielt also am Rand der (Verteil)netze, heute gemeinhin Grid Edge genannt. Folglich werden von diesen Entwicklungen in erster Linie die Verteilnetzbetreiber berührt sein und damit oftmals die Stadtwerke. Sie sollten sich rechtzeitig in die Definition der Standards einmischen.

Von der Forschung in die Praxis

Das Kopernikus-Projekt ENSURE an der IAEW der RWTH Aachen untersucht derzeit, welche Anforderungen Stromnetze bis 2050 angesichts der o.g. Aufgaben erfüllen müssen. Es hat fünf Technologien identifiziert, die dafür essenziell werden:
Die Schutzgeräte für die Betriebsmittel des Netzes müssen intelligent werden: Aktuell messen sie kontinuierlich Spannungen und Ströme, um bei Störungen die betroffenen Netzteile abzuschalten – allerdings nach fix programmierten Parametern. Unter ENSURE wird ein Adaptivschutz entwickelt, der auf Veränderungen im Netz reagieren kann. Dafür vernetzt er mehrere Schutzinstrumente, wertet die Datenströme zentral aus und berechnet daraus aktuell sinnvolle Einstellparameter passend zur jeweiligen Netzsituation. Nur ein lernendes Schutzsystem kann flexibel reagieren.
Teilnetze müssen unterbrechungsfrei Energie austauschen können: Im Störfall werden Teilnetze abgetrennt und anliegende Erzeugungsanlagen heruntergefahren. Damit wird nicht nur Energie „weggeworfen“, es geht auch die Option verloren, sich gegenseitig Energie stützend beizusteuern. MVDC-Kurzkupplungen würden den dauerhaften Austausch von Energiereserven zwischen einzelnen Teilnetzen ermöglichen, Netzfehler aber auf ihren Auftretensort eingrenzen.
Wandlungsverluste minimieren: Für DC-Verbraucher wie E-Autos oder andere Batteriespeicher sollen Solid-State-Transformer bereits die richtige Spannung anbieten. Anstatt Wechselstrom auszugeben, der dann erst wieder durch Ladegleichrichter angepasst werden muss, haben sie den Gleichrichter bereits integriert. So können DC-Verbraucher direkt ans Netz angeschlossen und Energieverluste reduziert werden.
Von der Vernetzung zur Vermaschung: Mehr Querverbindungen in einem noch weitgehend strahlenförmigen Netz erlauben, Energieangebot und -nachfrage wesentlich effizienter zu balancieren, und zwar bei geringerem Ausbaubedarf – also günstiger. Dieses Vermaschungskonzept wird ENSURE nun in der Praxis testen.
Umspannwerke müssen intelligent werden: Diese wichtigen Knotenpunkten im Netz werden ihre künftigen Aufgaben nur bewältigen, wenn sie eine dann deutlich höhere Menge an Informationen zu den Leistungsflüssen – sowohl intern als auch untereinander – schneller austauschen und auswerten können. Es ist offensichtlich: auch dies gelingt nur mithilfe der Digitalisierung.

Die Daten sind gesammelt, ab 2022 wollen die Aachener die genannten Ansätze für ein zukunftsfähiges Energienetz in der Praxis testen. Gut so, denn die Zeit drängt.